Hiob über seine Freunde: „Ihr seid nur Lügentüncher.“
„Untaugliche Ärzte allesamt.“
Manchmal drohe ich, ins Alttestamentarische abzugleiten, natürlich ist damit kein Blumentopf zu gewinnen, obwohl: hat hate-speech nicht Aufschwung?
Die folgenden Notizen stammen aus dem Herbst 2021.Ich hatte sie im Laufe der folgenden knapp zwei Jahre vergessen, in denen ich mich mit Reisen und einer neuen Arbeit „über Wasser hielt“ und versuchte, dem erneuten Tumorwachstum nicht zu viel Zeit und Aufmerksamkeit zu „schenken.“
Die Spiegelungen in Venedig, das Verschwimmen von Zeit, die Leere und Angst beim Warten, die Rollenerwartung braves Kind, fügsamer Patient zu sein.
Auf der neurochirurgischen Akutstation der renommierten Universitätsklinik gab es, als ich dort lag , nur eine Nachtwache für 24 Patienten, darunter einen aufgrund seiner plötzlichen Erblindung verängstigten Syrer, der kein Deutsch sprach, und vergeblich auf Englisch nach seinen Angehörigen rief und eine über 80-Jährige, die gegen Mittag aus einer anderen Klinik mit Verdacht auf einen drohenden Querschnitt eingeliefert worden war. Jedoch ging diese Information bei der Übergabe verloren, was dazu führte, dass die resolute Pflegekraft der Nachmittagsschicht zunächst mit Nachdruck darauf bestand, „jetzt müsse aber aufgestanden werden.“
Unsere Facharztausbildung folgte - wie der gesamte Krankenhausalltag - einer strikten Hierarchie. Einarbeitung gab es nur auf dem Papier. Ins kalte Wasser geworfen hatten wir zu Recht das Gefühl, unseren Aufgaben nicht gewachsen zu sein. Aber gerade, weil wir unter diesen Bedingungen so litten, blieb uns nichts anderes übrig, als uns früher oder später doch mit ihnen zu identifizieren.
Selbst mir erscheint im Rückblick, die straffe Ordnung habe auch ihr Gutes gehabt: klare Verantwortlichkeiten und verlässliches Wissen, je höher man stieg; Anerkennung und Schutz im Austausch für folgsame Loyalität.
In diesem System waren unsere Chefs selbstverständlich autoritär und sakrosankt und wir ganz von ihrem Wohlwollen abhängig. Diese Haltung wurde verinnerlicht ans Krankenbett getragen: Patient zu sein, bedeutet auch heute noch in erster Linie die Verpflichtung zur kindlichen Fügsamkeit.
Ein Kurzstreckenkrebs. An was hängt sich die Hoffnung? Ab welchem Punkt beginnt man, sich selbst zu belügen? Die Verleugnung von Sterben und Tod längst gesellschaftlich-strukturelle Norm. Die berechtigte Angst des Einzelnen stigmatisiert, in winzige Nischen gepresst. "Die Patienten, die nach der Bestrahlung zu uns kommen, sind in der Regel zufrieden." - Antwort auf meine Frage nach der möglichen Verstärkung kognitiver Defizite.
Natürlich gibt es eine Zwei-Klassen-Medizin und natürlich gilt sie nicht nur für die leichten Fälle. Was neu ist: auch ich als Ärztin falle inzwischen darunter. Warum auch nicht? Nur herrscht auch hier - trotz Ehrenkodex - ein Ungleichgewicht: Mein Verständnis für die Fehlbarkeit der Kollegen, macht es schlimmer, führt nicht zu einer sorgfältigen Abklärung oder Beratung. Ich werde es schon selber wissen. Je hoffnungsloser mein Fall, desto größer das Missbehagen auf Seiten meiner Behandler. Das Krankenhausessen schmeckt und riecht seit dreißig Jahren gleich.
Meine erste Idee war eine Volte: ich würde erblinden und dennoch Bilder machen, malte ich mir aus. Fünf Jahre später beschämt mich die Erinnerung daran. Mein Krebs hat sich entschieden, an derselben Stelle weiterzuwachsen. Nun drückt er wieder auf den Nerv, der das linke Auge zur Seite zieht. Wenn ich das Auge nicht abklebe, kann ich Entfernungen nicht einschätzen. Das, was ich dann sehe, verwirrt mich: warum bewegt sich der Radfahrer dort in einem LKW statt daneben?
Rückt das Leid zu nah, verliert sich die Lust an Pathos? Stimmt das?
Ich frage mich wie Conne das ausgehalten hat: fünf Chemotherapien, zwei Operationen, eine Bestrahlung. Die Erklärung: „Sie sind krebsfrei“; drei Monate später: „Wir müssen noch etwas nachbessern“, dabei war schon auf dem allerersten MRT der vergrößerte Lymphknoten deutlich zu sehen, neun Monate später ihr Tod.
Sie hat mich rechts überholt. Ich war mir so sicher, sie würde mich überleben, darin lag viel Trost.
Vielleicht gibt es keinen Fortschritt im Sinne linearer Prozesse - wohin auch - nur zirkuläre. Dita Deutsch auf der Bank in Tel Aviv, das Meer halb im Rücken: Weise soll der Mensch werden, wenn er alt wird, weise! Blöd wird er, nur blöd! Ihr Deutsch mit rumänischem Akzent, ihre traurige Empörung halb gegen sich gerichtet.
M. weist mit ausholender Geste auf das Bild auf dem Monitor, dass ich ohnehin nicht richtig erkennen kann: " Wenn ich dieses Bild auf einem Kongress zeigen würde, würde mir keiner glauben, dass Sie noch sehen können! " Ja. - Und?
Unser Gespräch nach 2,5 stündiger Wartezeit dauert knapp zwanzig Minuten, unterbrochen durch etwa ein halbes Dutzend Anrufe. Die Abteilung, die Klinik ist in Aufruhr, wegen der steigenden Covid-Zahlen, ein Stationsumzug steht an. Genau eine solche Situation hatte ich im Frühjahr befürchtet, gleichzeitig weiß ich: es liegt nicht allein daran. Das Interesse an unheilbar Kranken flaut ab, sobald man sie nicht mehr ausschlachten kann. Ein Gespräch, dass nicht zu einer Operation führt, ist ein Minusgeschäft, lohnt die Mühe nicht.
Medizinischer Fortschritt und Machbarkeitswahn kein Traumpaar, sondern eine Mesalliance, die schreckliche Kinder gebiert.
Es muss alles gemacht werden, weil alles getan werden kann - und umgekehrt. Die Verzweiflung Schwerkranker als Motor, als Rechtfertigung, der Ausdruck todkrank fast ausgestorben.
Vom Sterbenmüssen ist kaum die Rede, stattdessen heißt es: Kampf, Überleben. (Liebe Chordomakämpfer, liebe Chordomaüberlebende lauten die gängigen Anreden im Forum "meiner" Krebsgesellschaft.)
Die Beunruhigung vor der Untersuchung, das Warten auf das Ergebnis, die Nachbesprechung kosten mich so viel Zeit - je nachdem wohin der Befund geschickt wird, ob er dort gelesen wird, oder archiviert vergehen günstigstenfalls vier Wochen, in der Regel acht.
Ein Déjà-vu - wie so vieles in den nächsten Monaten mit einem Unterschied: ich weiß inzwischen fast alles, was es über meinen Krebs zu wissen gibt. Daher weiß ich: bei erneutem Wachstum besteht die Hoffnung auf Besserung nicht mehr.
Menschen und Dinge, die ich nach der ersten Krebsbehandlung verlor:
• einen langjährigen Freund, mein Trauzeuge, mit Frau und Kind
• eine Freundin aus Kindertagen. Sie verschwand schon einmal, nach dem Tod meiner Mutter, um einige Jahre später wiederaufzutauchen
• eine Stieftochter und meine weitere Schwiegerfamilie, kein Wort des Beileids zum Tod meiner Schwester
• meine Wohnung durch eine fingierte Eigenbedarfsklage. Nach 12 Jahren wollte mein Vermieter schließlich auch ein fetteres Stück vom Berliner Immobilienkuchen
• meine Praxisräume
• meinen Beruf
Zweimal Vertuschung: Ich nehme alle Nachsorgetermine wie empfohlen halbjährlich wahr, dazu werden neue Schichtaufnahmen des Kopfes gemacht. 2018 bin ich beunruhigt über Veränderungen, die auf den Bildern zu sehen sind, im radiologischen Befund ist erstmals von möglichem Tumorwachstum die Rede.
Im Gespräch mit den Strahlentherapeuten wischt dieser die Einschätzung der Kollegen beiseite: das sei kein Tumor-, sondern Narbengewebe. Auch meine Zweifel am Sinn engmaschiger Kontrollen tropfen ab: eine weitere Bestrahlung sei möglich, trotz der Höhe der Vorbestrahlung. Zwei Jahre später ist klar, dass beides nicht stimmt: Kein Narbengewebe, sondern Tumorwachstum, kein weiterer therapeutischer Spielraum mehr, zumindest nicht, ohne das hohe Risiko schwerster Schädigungen gerade aufgrund der Vorbestrahlung. Mein Leben auf der Patientenspur. Schlimmer noch: zwischen den Stühlen - Krebs und Rezidiv: hart erarbeitet, nur ist jetzt mit mir kein Staat mehr zu machen, im Gegenteil: die Unheilbarkeit meines Krebses - jetzt endgültig deutlich - wird zum Affront. (Wie kann ich es wagen, dabei Recht zu haben)
Wir erzählen uns Geschichten, behaupten Erinnerungen, erfinden uns unglücklich neu.
Die Praxis meines Augenarztes ist wegen Corona bereits geschlossen. Der Augenarzt, zu dem ich stattdessen gehe wird seine wenige Tage später schließen. Er bestätigt: die Hirnnerven auf beiden Seiten sind geschädigt, am besten ein erneutes MRT - das letzte liegt erst sechs Wochen zurück - ich soll in die Ambulanz der Uni-Klinik, auch wenn er nicht wisse, ob die im Moment Patienten nähmen.
Ich bekomme zwei Überweisungen, von denen ich weiß, dass sie nichts nützen. In der Uni-Klinik müsste ich mich als Notfall deklarieren, das bin ich nicht, oder müsste sonst etwas veranstalten, um als Kassenpatientin nicht abgewimmelt zu werden.
Soviel weiß ich inzwischen. 2015 war ich noch erstaunt über die Vorzimmerdame von Herrn Prof. D., die erst mit professioneller Empathie das Gespräch am Telefon entgegennahm, meinen Namen und Geburtsdatum notierte und mich nach Angabe der Krankenkasse dann aus der Leitung warf. Sie war davon ausgegangen, ich sei als Ärztin natürlich privat versichert. Mein Tumor war damals aufgrund der Lage und Ausdehnung lebensbedrohlich.
Ich kaufe mir eine Augenklappe.
„Ist denn schon Fasching?“ fragt mich der Depp, der mit mir die eine Etage im Krankenhausaufzug fährt. „Sie können gerne meinen Hirntumor haben. Ich nehme dafür eine rote Nase.“ (24.07.2023)
Was ich hasse und was mich schmerzt, auch M. zwingt mich in ein Opferquartett. Aber ein Irrtum zu glauben, wer bald sterben müsse, halte das Ass. Ich verstehe die Spielregeln nicht. Habe sie schon in meiner Kindheit nicht verstanden. (10.08.2023)
Was werden meine letzten Bilder sein?
Der Blick auf die glitzernde Havel im Spätsommerlicht?
Das erstaunliche Grün über mir, das von der Sonne und dem beginnenden Herbst unberührt scheint, obwohl sich das Licht schon verändert.
Oder doch Conne, die mir ebenso beiläufig wie nachdrücklich versichert : Du wirst nicht sterben.
Jetzt tue ich es doch, aber sie ist mir viel zu früh vorausgegangen.
Das Erwachen der Farben vor meinem Fenster, die sich frühmorgens behutsam aus der Dämmerung schälen.
Wie schrecklich viel wir tun mussten, für das Gefühl, geliebt zu werden
Wie taub unsere Eltern. (09.09.2023)
Abzuhaken sind in den neun Jahren meiner Erkrankung: 4,5 Neurochirurgen, 4 Radiologen, 2 Strahlentherapeuten, 4 Onkologen, 0,5 Neuroonkologen, 0,5 Neuroophtalmologen, 3 Internisten als Hausärzte, 2 Neurologen, 1 Orthoptistin
Es bleiben : 1 Neurologin, 1 Augenarzt, 1 HNO- Arzt, 1Palliativmedizinerin, 1 Neuropsychologin.
Dazwischen - über sehr unterschiedliche Zeitspannen hinweg - unterstützend: 1 Endokrinologe (bekam dann Angst vor meinem Sterben) , 2 Augenärzte, 1 Neuro-onkologin (durch Neuropsychologin vermittelt), 3 Radiologinnen, davon 1 Neuroradiologin (durch Bekanntschaft mit der Schwägerin eines früheren Doktoranden vermittelt), 1 Strahlentherapeut, 1 Sportmediziner, 1 Rehabilitationsmediziner, 1 Psychoonkologin, 2 Physiotherapeutinnen.
Geschädigt im Sinne eines Kunstfehlers haben mich: 1 renommierter Neurochirurg, 1 renommierter Strahlentherapeut, 1 Radiologe.
Mehr als sechs Monate meiner Lebenszeit haben mich gekostet: 1 Strahlentherapeut, 2 Neurochirurgen.
Verkürzte Lebenszeit durch die o. g. Fälle und weitere strukturelle Gegebenheiten des Gesundheitssystem: 23 Monate.
Notwendiger Kraftaufwand vor diesem Hintergrund: Nicht zu ermessen. (28.09.2023)
Abschiede
Ich beginne, mich zu verabschieden. Meist schriftlich. Das hätte ich früher verachtetet, fällt aber leichter. Zumindest denen gegenüber, die schon lange nicht mehr an meiner Seite sind. Ziehe sorgfältig abgewogene Kreise. Anstrengung wird das Maß der Dinge. Es gibt viel, das ich inzwischen nicht mehr kann. Reagiere besonders allergisch auf Vertröstungen, Verspätungen und leere Versprechen. Den Wert frommer Lügen hingegen beginne ich langsam zu begreifen. Den der Verdrängung sowieso. Wer bleibt? Und was? Ich wiederhole: Ich könnte auch auf meinem Bett sitzen und weinen, aber was hätte ich davon? Ein handliches, glänzendes Stereotyp. Vor allem alltagstauglich. Die Angst vor dem Sterben schlüge die meisten sonst in die Flucht. (Herbst 2023)
Bombenbauen
Mittags im vollbesetzten 249er beginne ich ein Gespräch mit der hochbetagten Frau, die ich schon am Vortag auf einer anderen Busfahrt sah. Fast unmittelbar sind wir uns einig: Wenn wir nur könnten, würden wir den Rahmen sprengen, den uns die Gesellschaft so selbstverständlich auferlegt. Sie bedauert, dass der Vater ihr das Bombenbauen nicht beibrachte, nach seiner Rückkehr aus dem Krieg ihre kindliche Begeisterung fürs Töten nicht teilte. („Hast Du wen getötet? Hast Du wen getötet? Habe ich ihn gefragt. Aber er hat mich nur traurig angeschaut und sich abgewandt. Die Antwort ist er mir bis zuletzt schuldig geblieben“)
Auf dem Bürgersteig dann, als sich unsere Wege trennen, weil ich schon mit J. verabredet bin und ich ihr wegen der anstehenden OP auch einen Korb für die darauffolgende Woche gebe muss, nach kurzem Zögern : „Wenn jemand sagen sollte, Sie seien wahnsinnig, hau ich dem auf die Nase!“.
Ich erschrecke über ihren Scharfsinn und fühle mich doch zugleich wunderbar getröstet.
(6.11.2023)
Die letzte Chance liegt mir bis zuletzt im Magen. Erst am Abend vor der geplanten OP schaffe ich den Absprung. M. und ich verlassen die Klinik. Ziehen die Rollköfferchen hastig hinter uns her. Was gab den Ausschlag? Die nassforsche Art im Umgang mit den Untergebenen, die herrische Gereiztheit mit der er am Telefon erklärte:" Ich bin im Patientengespräch. Nein. Soll er den Kopf halt schon aufmachen." um mir im gleichen Atemzug auf meine zuvor gestellte Frage mitzuteilen, er plane einen dritten Zugang, d. h. eine weitere OP.
Ich sterbe an ärztlicher Vernachlässigung. Ein besonders perfider Kunstfehler.
Wer bin ich? Der formvollendete Kunstspringer auf dem Weg zum Boden, das Grauen des getroffenen Büroturms hinter sich lassend oder dessen Kollege unter dem Schreibtisch, eingehüllt in eine Wolke von Angst und Staub? (9.11.2023)
Drei Wochen vor dem geplanten Operationstermin ruft S. mich an, um mir mitzuteilen, er habe meinen Fall mit F. auf. einem Kongress diskutiert. Er werde mich nicht mehr operieren, fast aufgeräumt: "Wenn Sie Hirndruckzeichen haben, melden Sie sich bei mir." Ein Todesurteil en passant. (10.11. 2023)